Warum unsere Vergangenheit uns noch heute steuert
Wer in der eigenen Kindheit bestimmte Erfahrungen vermisst oder negative Botschaften erlebt hat, spürt diese alten Muster oft noch Jahrzehnte später. Viele Menschen wissen zwar, dass sie »eigentlich« selbstbewusster, liebevoller mit sich umgehen und unabhängiger sein könnten – doch in entscheidenden Momenten übernehmen die tief verwurzelten Kindheitsprägungen die Kontrolle. Genau hier setzt das Konzept »Reparenting« an, bei dem wir lernen, uns selbst eine fürsorgliche Mutter und ein liebevoller Vater zu sein – auf dem Weg zu mehr Selbstakzeptanz und emotionaler Stabilität.
Das innere Kind: Fundament unserer Emotionen
Unser inneres Kind, wie es häufig in der Psychologie genannt wird, ist jener Teil unserer Persönlichkeit, der alle Erlebnisse, Gefühle und Einstellungen aus der Kindheit in sich trägt. Ob Urvertrauen, Selbstwertgefühl oder die Fähigkeit, Liebe zu empfangen und zu geben – vieles davon wird in den ersten Lebensjahren geprägt. Wenn Eltern uns (oft unbewusst) vermitteln, wir seien nur wertvoll, wenn wir Leistung erbringen, kann sich dieser Glaubenssatz hartnäckig halten. Die Folge: Wir neigen zu Perfektionismus, leiden unter Versagensängsten oder spüren große Unsicherheit in Beziehungen.
Wie sich Verletzungen aus der Kindheit zeigen
Häufig sind Verletzungen, die Eltern gar nicht absichtlich zugefügt haben, tief in uns verwurzelt. Manche Eltern werten Kinder unbewusst ab, wenn etwas nicht richtig klappt. Andere konzentrieren sich stark auf Fehler – das Kind lernt, sich nur über Leistung und Lob von außen zu definieren. Diese Prägungen beeinflussen das Erwachsenenleben enorm: Zum Beispiel fällt es uns schwer, Beziehungen einzugehen oder wir opfern uns beruflich auf, weil wir immer noch nach dem Gefühl suchen, endlich »gut genug« zu sein.
Die Idee des Reparenting
»Reparenting« kommt aus der Psychotherapie und beschreibt das bewusste Nachnähren des eigenen inneren Kindes. Dabei lernen wir, uns jene Fürsorge und Zuneigung zu geben, die wir als Kinder vielleicht nicht (ausreichend) bekommen haben. Wir treten quasi an die Stelle fehlender oder ungenügender Eltern und übernehmen selbst die verantwortungsvolle Rolle, unsere eigenen Bedürfnisse zu erkennen und liebevoll zu erfüllen.
Warum es sich lohnt, das innere Kind zu heilen
Ein verletztes inneres Kind beeinflusst unser Verhalten oft ein Leben lang. Doch die gute Nachricht: Wir können diesen Kreislauf durchbrechen! Wer lernt, sich mit Güte und Empathie zu begegnen, spürt, wie sich Stück für Stück alte Wunden schließen. Das stärkt nicht nur das eigene Selbstwertgefühl, sondern ermöglicht auch eine intensivere, authentischere Bindung zu anderen Menschen.
Mehr Selbstliebe und Selbstvertrauen
Indem wir verstehen, dass wir trotz aller Unzulänglichkeiten liebenswert sind, wächst unser Selbstvertrauen. Wir werden unabhängiger davon, was andere über uns denken oder sagen.
Gesündere Beziehungen
Wer sein inneres Kind annimmt, kann auch den emotionalen Ballast aus der Vergangenheit loslassen. Damit verbessern sich Partnerschaften, Freundschaften oder Familienbeziehungen – denn wir sind nicht mehr in erster Linie getrieben vom Wunsch, von anderen bestätigt zu werden.
Bessere Abgrenzung
Ein starkes, erwachsenes Selbst kann klar »Nein« sagen, ohne Schuldgefühle zu empfinden. Gerade Menschen, die in der Kindheit gelernt haben, immer brav zu funktionieren und alles richtig zu machen, profitieren davon immens.
Vorbild sein für die eigenen Kinder
Indem wir uns als Erwachsene weiterentwickeln und altes Fehlverhalten unserer Eltern korrigieren, können wir unseren eigenen Kindern eine bessere Basis geben. So werden wir im besten Sinne zu »Kreislaufdurchbrechern« und geben den nächsten Generationen mehr Liebe, Wertschätzung und Freiraum mit auf den Weg.
Praktische Schritte zum Reparenting
1. Das innere Kind bewusst wahrnehmen
• Schreiben Sie einen Brief an Ihr jüngeres Ich: Welche Bedürfnisse hatten Sie damals, die unbefriedigt blieben? Welches Lob oder welche Bestätigung hätten Sie gebraucht?
• Beobachten Sie, in welchen Situationen im Alltag Sie besonders emotional reagieren. Fragen Sie sich: »Ist das gerade mein erwachsener Anteil, oder reagiert hier das verletzte Kind in mir?«
2. Neue Glaubenssätze entwickeln
• Machen Sie sich klar, welche »Leitsätze« Ihre Kindheit geprägt haben (z. B. »Ich bin nur etwas wert, wenn ich Leistung bringe«).
• Formulieren Sie diese negativ wirkenden Glaubenssätze neu, zum Beispiel zu: »Ich bin auch dann wertvoll, wenn ich nicht perfekt bin.«
• Wiederholen Sie diese neuen Glaubenssätze regelmäßig (z. B. morgens im Spiegel), damit sich Ihr Unterbewusstsein darauf einstellen kann.
3. Selbstfürsorge im Alltag üben
• Nehmen Sie sich Zeit für Aktivitäten, die Ihnen wirklich gut tun: ein entspannter Spaziergang, ein kreatives Hobby, Gespräche mit Menschen, die Sie stärken.
• Geben Sie Ihren Gefühlen Raum, anstatt sie wegzudrängen. Ob in einem Tagebuch oder im Gespräch mit Vertrauenspersonen – alles, was Sie im Moment spüren, hat seine Berechtigung.
4. Grenzen setzen
• Das innere Kind sehnt sich nach Schutz. Übernehmen Sie bewusst die Rolle der »erwachsenen Instanz«, die sagt: »Hier ist Schluss!« Das kann heißen, rechtzeitig Pausen einzulegen, »Nein« zu Zusatzaufgaben zu sagen oder sich aus Beziehungen zu verabschieden, die nicht gut tun.
5. Professionelle Unterstützung in Betracht ziehen
• Bei tief sitzenden Verletzungen kann ein Therapeut oder Coach für innere Kind-Arbeit sehr hilfreich sein. Gemeinsam können Sie an alten Wunden arbeiten und konkrete Übungen zur Heilung des inneren Kindes durchführen.
Fazit
Unsere Vergangenheit ist nicht unser Schicksal – selbst wenn wir ungünstige oder schmerzhafte Erfahrungen machen mussten, können wir heute lernen, uns das zu geben, was früher gefehlt hat. Reparenting bedeutet, dass wir erwachsen werden im besten Sinne: Wir übernehmen Verantwortung für unser inneres Kind und schenken ihm jene Liebe und Zuwendung, die es einst nicht (oder nur unzureichend) erfahren hat. Dieser Prozess kann transformierend wirken, weil er uns wahre Selbstliebe und eine nachhaltige innere Stabilität ermöglicht.