Einsamkeit ist nicht dasselbe wie Alleinsein
Victoria wuchs als Einzelkind auf und fühlte sich oft alleine, wenn die Eltern arbeiteten. Das Gefühl der Einsamkeit begleitet sie bis heute. Manchmal auftretend in typischen Situationen wie zuhause auf dem Sofa, mal mitten in einer Gruppe von Freund:innen. Ihr körperliches Empfinden beschreibt sie als unangenehmes Ziehen in der Bauchregion und – wenn es ganz schlimm ist – ein Engegefühl in der Brust. Ihr Rezept: »Sich bewusstmachen, dass es wieder aufhört, und den Kontakt zu Familie oder engen Freund:innen suchen.«
Auch der Stuttgarter Psychologe Oliviero Lombardi betont:
„Alleinsein zu können, ist etwas Positives. Einsamkeit hingegen ist etwas Ungesundes.“
Menschen sind soziale Wesen und brauchen Wertschätzung und Austausch. Diese Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Bindung und der tatsächlichen Verbundenheit beschreibt den Kern der Einsamkeit.
Wieso auch junge Menschen betroffen sind
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov von Oktober 2020 fühlte sich die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen »sehr oft« oder »eher oft« einsam. Lombardi sieht darin mehrere Ursachen:
1. Soziale Phobien und Mobbing-Erfahrungen
Wer ausgegrenzt wurde, zieht sich eher zurück und wagt seltener neue soziale Kontakte.
2. Oberflächliche Kontakte
Durch Tinder, Instagram & Co. pflegen viele nur flüchtige Bekanntschaften, ohne echte Nähe und Tiefe.
3. Perfektionismus und Selbstoptimierung
Die Angst, sich »schwach« zu zeigen, führt zu einem Mangel an Offenheit in Freundschaften oder Beziehungen.
Selbstwertgefühl als entscheidender Faktor
Ganz zentral für das Empfinden von Einsamkeit ist nach Lombardis Ansicht das Selbstwertgefühl:
„Wer ein starkes Selbstwertgefühl hat, kommt mit sich selbst gut zurecht. Wer dagegen zu wenig Selbstwert spürt, ist abhängig von der Bestätigung anderer.“
Die Folge: Betroffene fühlen sich in Gesellschaft zwar kurzzeitig besser, doch sobald sie allein sind, verstärkt sich die Einsamkeit – ein ständiges Auf und Ab.
„Niemand würde sich Sorgen machen, wenn ich nicht heimkomme“
Annika, 33 Jahre alt, arbeitet als Laborleiterin und hat einen weitläufigen Freundeskreis, viele Hobbys und einen anspruchsvollen Job. Trotzdem spürt sie abends oder an den Wochenenden oft ein nagendes Gefühl: »Es ist, als ob keiner wirklich bei mir sein will. Und sonntags vermisse ich eine Person, mit der ich Exklusivität und Nähe teilen kann.«
Gerade die »leeren« Tage der Woche oder Momente nach großen Ereignissen verstärken diese Einsamkeit. Festliche Anlässe wie Hochzeiten erlebt sie besonders belastend, weil sie den Eindruck hat, alle anderen seien in einer glücklichen Partnerschaft, nur sie nicht.
Ein Umzug ins Ausland: Lauras Situation
Laura (24) wohnt für ihr Masterstudium in Finnland – weit weg von ihrer gewohnten Umgebung. Zwar findet sie das Alleinsein hin und wieder entspannend, doch wenn es sich nicht frei gewählt anfühlt, sondern aufgezwungen (z. B. durch die Distanz zu Freunden und Familie), wird es quälend.
„Ich fühle mich einsam, wenn ich andere Menschen mit Begleitung sehe. Ich hätte dann auch gern jemanden direkt an meiner Seite.“
Sie probiert neue Strategien aus, sucht Kontakte über Facebook-Gruppen, Bumble Friends oder Sportvereine, um das Gefühl von Isolation zu mindern.
Einsam in der Gruppe
Auch Victoria weiß, dass man sich unter vielen Menschen einsam fühlen kann:
„Noch unangenehmer als allein zuhause zu sitzen ist das Gefühl, in einer Gruppe zu sein, ohne sich wirklich verbunden zu fühlen.“
Gerade wenn sie mit einem befreundeten Paar unterwegs ist und die Vertrautheit zwischen den beiden sieht, fühlt sie sich wie das sprichwörtliche »dritte Rad am Wagen«. Früher schämte sie sich dafür – heute spricht sie offener darüber und merkt, wie positiv andere darauf reagieren.
Tipps: Den inneren Schweinehund überwinden
• Kontakte knüpfen: Lombardi empfiehlt, Hemmungen abzubauen und aktiv auf Menschen zuzugehen. Das kann durch Vereine, Online-Plattformen oder auch schlicht durch das Ansprechen unbekannter Leute bei Veranstaltungen geschehen.
• Über Einsamkeit reden: Wer sich traut, das Thema anzusprechen, spürt oft große Erleichterung und findet Mitgefühl sowie Austausch.
• Professionelle Hilfe: Bei tieferliegenden Ängsten oder sozialer Phobie kann eine Therapie unterstützen. Lombardi sagt: »Soziale Interaktion kann man wieder erlernen.«
• Eigenes Selbstwertgefühl stärken: Ob durch Coaching, Bücher oder gezielte Selbstreflexion – wer sich selbst mehr mag, hat oft weniger das Gefühl, auf andere angewiesen zu sein.
Warum Einsamkeit ungesund ist
Dauerhafte Einsamkeit kann körperliche Folgen haben, vergleichbar mit Risikofaktoren wie Rauchen oder Fettleibigkeit. Studien deuten darauf hin, dass ein erhöhtes Sterberisiko um rund 26 Prozent besteht, wenn man sich chronisch einsam fühlt. Auch deshalb ist es wichtig, das Thema aus der Tabuzone zu holen und ernst zu nehmen.
Fazit
Einsamkeit macht vielen Menschen zu schaffen – vom Schulkind bis zur 30-Jährigen, die sich nach einem Partner sehnt, oder der Studentin, die im Ausland neue Wurzeln schlagen will. Noch immer ist es für viele ein Tabuthema, und zu viele schämen sich dafür, dass sie sich einsam fühlen. Dabei kann es enorm helfen, offen darüber zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ob es um mehr Initiative beim Kennenlernen neuer Kontakte geht, den Aufbau eines gesünderen Selbstwertgefühls oder professionelle Beratung: Einsamkeit muss kein Dauerzustand sein. Je häufiger wir das Thema enttabuisieren, desto mehr Chancen eröffnen wir uns, echte Verbindungen aufzubauen – und das schmerzhafte Gefühl der Isolation nach und nach zu überwinden.